Schlaf- und Beruhigungsmittel

Nervosität, Unruhe, Schlaflosigkeit und Ängste sind weit verbreitete Phänomene in der heutigen Welt. Stress und Leistungsdruck in Beruf und Schule bedrücken und (über)fordern viele Menschen – manche begegnen diesem Druck mit der Einnahme von Tabletten. Dabei kann es zu Missbrauch und Abhängigkeit von Medikamenten kommen, wobei Schlaf- und Beruhigungsmittel eine besonders wichtige Rolle spielen. Wie wirken die chemisch hergestellten Benzodiazepine und ähnliche Stoffe? Welche Risiken birgt ein unsachgemäßer Gebrauch dieser verschreibungspflichtigen Arzneimittel? Welche Wege kann die Prävention zur Vermeidung von Missbrauch und Abhängigkeit einschlagen?

Schlaf- und Beruhigungsmittel gestern und heute

Aufgabe der Medizin ist es seit jeher, psychische und körperliche Leiden zu lindern. Gegen Nervosität, Ängste und Schlaflosigkeit wurden pflanzliche Mittel aus Baldrian, Hopfen oder Passionsblume, aber auch Tinkturen auf Opiumbasis verwendet. Manche dieser Substanzen sind auch heute noch beliebte Schlaf- und Beruhigungsmittel und werden in Drogerien und Apotheken verkauft.

Im Zuge der Entwicklung einer chemisch-pharmazeutischen Industrie wurden im 19. Jahrhundert auf Barbitursäure-Basis synthetisierte Produkte hergestellt. Diese so genannten Barbiturate entwickelten sich zu einer der erfolgreichsten Medikamentengruppen und waren bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die gebräuchlichsten Schlafmittel. Die schädlichen Nebenwirkungen der Barbiturate, die bei langfristigem Gebrauch stark abhängig machen und bei Überdosis lebensgefährlich sein können, wurden erst im Verlaufe der Zeit erkannt.

1957 gelang es erstmals, Benzodiazepine zu synthetisieren. In der Folge wurden sie zu den meistgebrauchten Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Sie sind auch ein wichtiger Bestandteil in der Behandlung verschiedener Krankheiten. Das Problem beginnt dort, wo die Einnahme lange andauert und sich der Patient oder die Patientin an das Medikament gewöhnt. Auch wenn die Benzodiazepine insgesamt geringere Risiken bergen als die Barbiturate, kann das Einnehmen dieser Medikamente doch schädliche Folgen nach sich ziehen und abhängig machen (vgl. Abschnitte »Risiken« und »Missbrauch und Abhängigkeit«). Seit den Neunzigerjahren sind benzodiazepinähnliche Substanzen mit neueren Wirkstoffen auf dem Markt, die aber die selben Risiken bergen.

Benzodiazepine und ähnliche Stoffe

Schlaf- und Beruhigungsmittel gehören zu den auf die Psyche wirkenden Arzneimitteln. Es handelt sich heute vor allem um Benzodiazepine und benzodiazepinähnliche Stoffe. Der Begriff Benzodiazepine bezeichnet eine Gruppe von chemisch ähnlich aufgebauten Wirkstoffen, die als Entspannungs- und Beruhigungsmittel (Tranquilizer) oder als Schlafmittel (Hypnotika) eingesetzt werden. Der Unterschied zwischen beiden Typen besteht hauptsächlich in der Wirkungskraft auf die Wachsamkeit des Patienten oder der Patientin, die von der beruhigenden Wirkung bis hin zum tiefen Schlaf reicht. Benzodiazepinähnliche Stoffe sind chemisch keine Benzodiazepine, haben aber das gleiche Wirkprofil. Dazu zählen die Wirkstoffe Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon (so genannte  „Z-Drugs“)

Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln in Österreich

Frauen und ältere Menschen greifen überdurchschnittlich oft zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln. In einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung gaben 3,7 % der Frauen und 2,2 % der Männer an, im letzten Jahr 4 mal wöchentlich oder öfter Schlaf- oder Beruhigungsmittel konsumiert zu haben (Österreichweite Repräsentativbefragung 2008, Uhl et al. 2009). 2004 lagen die Werte bei 3,5 % (Frauen) bzw. 1,7 % (Männer). Als Ursachen dieser Geschlechtsunterschiede können unterschiedliche Strategien von Mann und Frau bei der Bewältigung von Krankheit und sozialer Belastung, unterschiedliche Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe sowie ein geschlechtsspezifisches Verschreibungsverhalten der Ärzte und Ärztinnen genannt werden. Der Gebrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln ist bei älteren Menschen höher, weil sie durch Krankheiten stärker belastet sind und vermehrt an Schlafstörungen leiden. Beim Umgang mit diesen Belastungen können Schlaf- und Beruhigungsmittel eine hilfreiche Unterstützung sein. Schlaf- und Beruhigungsmittel werden auch oft von Menschen eingenommen, die einen problematischen Gebrauch anderer Substanzen (Alkohol, Opiate, Kokain) aufweisen.

Laut der HBSC-Studie 2010 findet regelmäßiger Medikamentenkonsum, bei dem ein oder mehrere Medikamente öfters als 1 × pro Monat genommen werden, bei rund einem Viertel (25,5 %) der Schülerinnen und Schüler (11 – 17 Jahre) statt. Am häufigsten werden dabei Medikamente gegen Kopfschmerzen und Magen- oder Bauchschmerzen genommen. Medikamente gegen Einschlafschwierigkeiten und Nervosität werden von beiden Geschlechtern eher selten regelmäßig eingenommen. Diese Medikamente werden auch mit dem Alter seltener regelmäßig verwendet: Schlafmittel 3,4 %, Beruhigungsmittel 3,9 %.

Verlässliche Zahlen zur Abhängigkeit von Schlaf und Beruhigungsmitteln liegen für Österreich nicht vor. In der österreichweiten Repräsentativbefragung 2004 (Uhl et al., 2005) wird, ausgehend von den Angaben zu sehr häufigem Konsum (2,7 % mindestens 4 mal pro Woche im letzten Jahr), wenn man den medizinisch indizierten Konsum abzieht und die in Studien unterrepräsentierten Medikamentenabhängigen hinzuzählt, grob spekuliert, dass etwa 2 % der österreichischen Bevölkerung abhängig von Tranquilizern oder Hypnotika sein könnten. In der Befragung 2008 finden sich zur Abhängigkeit keine Zahlen mehr. Angesichts der zunehmenden Selbstmedikation mittels Versorgung über Internetapotheken und andere Anbieter im Internet ist mit einem Anstieg des problematischen Gebrauchs von Medikamenten zu rechnen.

Rechtliche Bestimmungen

Benzodiazepine, Barbiturate und einige andere Schlaf- und Beruhigungsmittel sind in Österreich rezeptpflichtig, d. h. sie werden nur auf ärztliche Verschreibung und in Apotheken abgegeben. Sie enthalten psychotrope Wirkstoffe, die auf Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation auf die Liste der zu kontrollierenden Stoffe gesetzt worden sind; die gesamte Liste der rezeptpflichtigen Substanzen findet sich in der Rezeptpflichtverordnung, die das Gesundheitsministerium nach § 1 Rezeptpflichtgesetz erlässt. Bei der Rezeptpflicht wird je nach Substanz noch zwischen »rezeptpflichtig « und »rezeptpflichtig, wiederholte Abgabe verboten« unterschieden. Trotz der Verschreibungspflicht kann in der Praxis Langzeitkonsum vorkommen, weshalb im Zusammenhang mit Medikamentenmissbrauch auch von »Sucht auf Rezept« die Rede ist.

Die Rezeptpflicht gilt für diese Medikamente auch dann, wenn sie übers Internet bezogen werden. Es ist dennoch anzunehmen, dass das Internet den Bezug solcher Medikamente mit gefälschten oder ohne Rezepte erleichtert. Zudem wird im Internet mit gesundheitsgefährdenden Fälschungen von Arzneimitteln gehandelt.

Wirkungen

Benzodiazepine und ähnliche Stoffe wirken, indem sie die Reizübertragung im Prozess der Neurotransmission hemmen. Sie haben je nach Substanz, Dosierung und Wirkdauer folgende Effekte:

  • angstlösend
  • schlaffördernd
  • beruhigend
  • muskelentspannend
  • antiepileptisch (Schutz vor Krampfanfällen)

Dementsprechend werden Benzodiazepine beispielsweise zur Behandlung von Spannungs-, Erregungs- und Angstzuständen, Schlafstörungen und bei muskulären Verspannungen eingesetzt.

Je nach Empfindlichkeit, Dosis und allfälligen Interaktionen mit weiteren Medikamenten können unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, beispielsweise Müdigkeit, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit, Muskelschwäche, Benommenheit, Schwindelgefühl, ein Nachlassen sexueller Bedürfnisse, psychomotorische Unruhe und Reizbarkeit.

Es wird unterschieden zwischen kurzfristig (weniger als 6 Stunden), mittelfristig (6 bis 24 Stunden) und langfristig (mehr als 24 Stunden) wirksamen Benzodiazepinen. Bei älteren Menschen kann sich die Wirkungsdauer verlängern, da ihr Körper Medikamente oft langsamer abbaut. Der Arzt, die Ärztin wählt jenes Medikament, dessen Wirkungsdauer für die Behandlung der jeweiligen Beschwerden (z.B. Einschlafprobleme, frühzeitiges Aufwachen, Angstzustände) angemessen ist.

Risiken

Bei niedrig dosiertem und kurzfristigem Gebrauch von Benzodiazepinen sind die negativen körperlichen, psychischen und sozialen Auswirkungen gering. Bei höherer Dosierung und/oder langfristiger Einnahme bestehen aber bedeutende kurz- und langfristige Risiken.

Die Einnahme über längere Zeit kann soziale und psychische Folgen nach sich ziehen: emotionales Desinteresse, Gereiztheit, schnellere Erschöpfbarkeit, Einschränkung der Interessen, Beziehungsprobleme etc. Wenn Benzodiazepine über längere Zeit eingenommen werden, sei es in niedrigen oder hohen Dosen, besteht zudem das Risiko, abhängig zu werden (vgl. Abschnitt »Missbrauch und Abhängigkeit«).

Insbesondere bei höherer Dosierung kann es zu folgenden Problemen kommen:

  • Gedächtnisstörungen, verminderte Aufmerksamkeit, verminderte Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, Beeinflussung des Gefühlslebens
  • Durch eine zu starke oder zu lange Sedierung steigt die Gefahr von Unfällen im Straßenverkehr, bei der Arbeit oder in der Freizeit. Auch Stürze sind infolge der muskelentspannenden und sedierenden Wirkung nicht selten,  insbesondere bei älteren Menschen.
  • Die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln während der Schwangerschaft birgt Risiken für das ungeborene Kind.
  • Bei Mischkonsum mit anderen Substanzen wie Alkohol oder Barbituraten können erhebliche Verhaltensstörungen ausgelöst werden, und es besteht die Gefahr von tödlichen Überdosierungen.

Straßenverkehr:

 

Die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln stellt ein oft unterschätztes Risiko für Unfälle im Straßenverkehr dar. Diese Medikamente können die Fahrfähigkeit stark beeinflussen, da sie einschläfernd wirken und das Reaktionsvermögen und die psychomotorischen Fähigkeiten einschränken.

Missbrauch und Abhängigkeit

Medikamentenmissbrauch liegt dann vor, wenn eine höhere Dosis als verordnet oder über längere Zeit als notwendig konsumiert wird oder wenn ein Medikament ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen wird. Der missbräuchliche Konsum von Medikamenten kann in eine Medikamentenabhängigkeit münden, die vor allem durch den Verlust der Kontrolle über den Arzneimittelgebrauch gekennzeichnet ist und Entzugssymptome zur Folge haben kann. Eine Toleranzentwicklung (das bedeutet, dass man die Dosis steigern muss, um die gleiche Wirkung zu erzielen) kann, muss aber nicht auftreten. Bei der Abhängigkeit von Benzodiazepinen wird zwischen Hochdosisabhängigkeit und Niedrigdosisabhängigkeit unterschieden. Eine Niedrigdosisabhängigkeit entsteht bei einer langfristigen Einnahme der empfohlenen therapeutischen Dosierung. In diesen Fällen gibt es in der Regel keine Toleranzentwicklung oder sie bleibt unbemerkt, da zwar die Wirkung schwindet, aber die Dosis nicht erhöht wird. Im Verlauf einer Hochdosisabhängigkeit kommt es hingegen zu einer deutlichen Toleranzentwicklung mit Dosissteigerung. Eine Niedrigdosisabhängigkeit von Benzodiazepinen kommt weitaus häufiger vor als eine Abhängigkeit von hohen Dosen. 

Es ist häufig nicht einfach, eine Medikamentenabhängigkeit zu diagnostizieren. Entzugserscheinungen beim Absetzen des Medikamentes werden oft als Wiederauftreten der Ausgangsbeschwerden gedeutet. Vergesslichkeit, verminderter Antrieb und geringe Anteilnahme am sozialen Umfeld sind häufige Begleiterscheinungen der Medikamenteneinnahme, die gerade bei älteren Menschen eher dem Alter zugeschrieben und nicht als Anzeichen einer Abhängigkeit wahrgenommen werden.

Entzug

Besonders beim schnellen Absetzen von Benzodiazepinen und ähnlichen Stoffen können Entzugssymptome auftreten, die nicht ungefährlich sind. Je höher die zuvor eingenommene Dosis der Medikamente war und je abrupter diese abgesetzt wurden, desto heftiger können die Entzugssymptome ausfallen. Ein Entzug sollte demzufolge nicht plötzlich, sondern über Wochen bis Monate und unter ärztlicher Begleitung durchgeführt werden. Wann Entzugserscheinungen auftreten, hängt von der Wirkungsdauer und von der Dosis des eingenommen Medikamentes ab: Bei langwirkenden Benzodiazepinen treten Entzugssymptome erst nach einigen Tagen auf, und sie sind weniger stark, aber dauern länger an.

Nach einer Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen sind beispielsweise folgende Entzugserscheinungen möglich:

  • Angst, Bewegungsunruhe
  • Erhöhte Sensitivität auf Licht und Geräusche
  • Sensibilitätsstörungen der Nerven (z. B. Kribbeln)
  • Muskelkrämpfe
  • Muskelzuckungen
  • Schlafstörungen
  • Schwindelzustände

Nach der Einnahme höherer Dosen über lange Zeit können als Entzugssymptome auch Krampfanfälle und Verwirrtheitszustände auftreten.

Entzugssymptome wie Angstzustände und Schlaflosigkeit sind manchmal nicht von den anfänglich behandelten Beschwerden zu unterscheiden, was einen Teufelskreis des Aus- und Wiedereinstiegs in den Medikamentengebrauch in Gang setzen kann.

Prävention

Die Prävention von Medikamentenmissbrauch oder Medikamentenabhängigkeit ist eine besondere Herausforderung, da Schlaf- und Beruhigungsmittel im Gegensatz zu Alkohol, Tabak und illegalen Drogen gesundheitliche Probleme lindern sollen. Sie tun dies auch – in vielen Fällen. Einige Patienten und Patientinnen kommen von ihnen jedoch nicht mehr los.

Die Prävention hat zum Ziel, diese missbräuchliche Verwendung von Medikamenten und die damit verbundenen Probleme zu vermindern. Medikamentenabhängigkeit ist eine stille, legale und tabuisierte Sucht. Eine wirkungsvolle Prävention von Medikamentenabhängigkeit verknüpft die strukturelle und individuelle Ebene und bezieht wichtige Akteure wie die Ärzteschaft, Apotheken und die zuständigen Behörden mit ein.

»Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage …« Trotz der Warnhinweise der Hersteller sind sich viele Patientinnen und Patienten nicht bewusst, dass bestimmte Medikamente abhängig machen können. Die  Aufklärung und Sensibilisierung in der breiten Bevölkerung ist deshalb eine notwendige präventive Aufgabe. Es ist wichtig, die Patientinnen und Patienten zu befähigen, Erwartungen an die Medikamenteneinnahme und Gefahren der Substanzen klarer zu erkennen. Die individuelle Stärkung von Fähigkeiten und Ressourcen, wie z. B. Kompetenzen der Stressbewältigung, trägt dazu bei, dass Belastungen auch anders als mit Medikamenten begegnet werden kann. Ein Medikamentenmissbrauch hängt oft mit belastenden Lebensbedingungen zusammen. Wirkungsvolle Prävention setzt demnach auch bei der Verminderung von Risikofaktoren in verschiedenen Lebensbereichen an (in der Arbeitswelt zum Beispiel die Senkung von Leistungsdruck).

Bei Schlafstörungen haben kognitive Verhaltenstherapien langfristig gute Resultate gezeigt. Ergänzend zu Verhaltenstherapien stellen Medikamente auf pflanzlicher Basis eine interessante Alternative zu jenen Medikamenten dar, die bekannt sind für ihr Missbrauchs und Abhängigkeitspotential.

 

Fachpersonen empfehlen für die Verschreibung von Benzodiazepinen die so genannte 4-K-Regel:

  • Klare Indikationen
  • Kleine Dosis
  • Kurze Anwendungsdauer (2-4 Wochen)
  • Kein abruptes Absetzen

Nicht zuletzt spielen auch gesetzliche Regulierungen und die nationalen Behörden eine wichtige Rolle bei der Prävention von Medikamentenmissbrauch, indem sie beispielsweise die Packungsgröße der Produkte festlegen. Aus Sicht der Prävention sind kleinere Packungen vorzuziehen. Die wachsende Bedeutung des Medikamentenhandels über das Internet stellt zudem zusätzliche Herausforderungen an die Kontrolle des Verkaufs von Arzneimitteln.

Teile des Inhalts mit freundlicher Genehmigung von Sucht Schweiz, Lausanne, CH und dem Institut für Suchtprävention

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